Frau Lührmann danke für Ihre Zeit. Was ist das überhaupt – Innovation? Wo fängt sie an? Für viele Menschen heißt, das in erster Linie am laufenden Band neue Produkte zu erfinden. Was ist für Sie Innovation?
Innovation ist für mich ganz klar Zukunftssicherung. Zukunftssicherung heißt dabei nicht, dass es immer innovative Raketenwissenschaft sein muss, und dass jeder Mittelständer zum Mars fliegen können muss. Es heißt flexibel und wendig genug auf alles reagieren zu können, was draußen am globalen, regionalen und lokalen Markt passiert. Dass man nicht da steht und überrollt wird, so wie das vielen Unternehmen auch zu Beginn der Pandemie passiert ist. Es heißt für mich Wendigkeit, Flexibilität und auch ein offenes Mindset.
Es scheint mir so, dass viele Unternehmen eine gewisse Angst haben vor dem Thema. Wie sehen Sie das?
Ich glaube Angst ist zu viel gesagt. Ich würde eher sagen sie sind ein bisschen orientierungslos oder auch überfordert. Meiner Wahrnehmung nach ist es schon so, dass der ganze Hype um Innovation und die ganzen Methoden überfordernd ist. Alles was man könnte, von Ambidextrie-Workshop bis New Work etc, da fehlt manchmal ein bisschen Orientierung, was wirklich gebraucht wird. Dann wird wahllos irgendwas zusammengestellt und es entsteht das Gefühl verloren zu sein in diesem ganzen Innovationsbestreben. Angst ist also zu viel gesagt, aber Überforderung und Orientierungslosigkeit in Bezug auf das, was man wirklich braucht, ist ein verbreitetes Problem. Vor allen Dingen im Mittelstand.
Wie motivieren Sie Unternehmen sich mit Innovation zu befassen?
Ich muss sie tatsächlich wenig motivieren, weil alle Innovation wollen und sie brauchen. Aber ich glaube, man kann ganz viel tun, indem man wieder zeigt, dass es einfach geht und ein bisschen die Komplexität von diesem ganzen Thema Innovation wegnimmt. Das ist auch meine Wahrnehmung. In meiner Arbeit merke ich immer wieder, dass Innovation überhaupt keine Raketenwissenschaft ist und es eigentlich nicht so schwer ist, aber man braucht manchmal so eine Art Vorschlaghammer für seine eigenen Denkmuster. Dass man auch mal eine Struktur oder einen Prozess infrage stellen darf. Warum waren Dinge immer so wie sie heute sind, machen die eigentlich noch Sinn? Das sind die eigentlichen Fragen, die man sich stellen muss. Um auch ein bisschen das Mindset Innovationen gegenüber wieder zu öffnen und wenn man dann erstmal ins Machen gekommen ist, dann fängt es an Spaß zu machen. Klar braucht man dafür auch die eine oder andere Arbeitshilfe, aber im seltensten Fall größere Methoden oder irgendwelche Arbeitsframeworks. Dann fängt es an Spaß zu machen und ich glaube in dem Moment, wo Unternehmen wieder merken, dass es Spaß machen kann und gar nicht so kompliziert ist, kommt die Motivation von ganz alleine.
Viele Menschen denken bei Innovatoren an Visionäre wie Steve Jobs oder Jeff Bezos. Braucht man eine Vision, um innovativ sein zu können?
Ich sag mal so: Schaden tut es sicherlich nicht. Aber eigentlich braucht man sie nicht zwingend. Eine Vision ist ein sehr sehr großes Ding und ich glaube, vielfach reicht es, ein bisschen in die Zukunft blicken zu können. Das Wichtigste ist eigentlich, noch vor der Vision, mal ein bisschen um die Ecke denken zu können. Das heißt, sich nicht immer linear an Prozessen und möglichen Best Practices langzuhangeln, sondern auch einfach mal zu sagen: Was wäre, wenn ich einen Reset-Knopf drücke und noch einmal ganz stumpf von Anfang an denke. Neu denke. Und ich glaube das ist fast wichtiger, wenn man Innovation wirklich auf die Straße bringen will. Innovation ist ein Spektrum, auf dem sich jeder befindet. Da gibt es die Jeff Bezos und Elon Musks dieser Welt, die Frage ist aber: Muss man so innovativ sein? Gerade im Mittelstand und in Traditionsunternehmen ist das nicht die Messlatte und deswegen glaube ich, dass es mehr darauf ankommt, sich eine Welt vorstellen zu können, die wir heute noch nicht haben. Dafür muss man kein riesiger Visionär, sondern einfach nur bereit sein, Dinge anders zu machen und aufrichtig Veränderung zu wollen und diese dann auch verfolgen zu können.
Wie muss sich ein Unternehmen aufstellen, um Innovation zu entwickeln?
Das kann man nicht pauschal für jedes Unternehmen sagen. Jedes Unternehmen ist anders, jedes hat eine andere Herausforderung, andere Menschen, die dort arbeiten und ein anderes Mindset in der Führung. Außerdem eine andere Historie, eine andere Geschichte. Das sollte man auf keinen Fall über einen Kamm scheren. Eins lässt sich, glaube ich, zusammenfassend für alle pauschal sagen: Man muss es aus allen Hierarchieebenen anpacken. Es bringt nichts, wenn in der unteren und der mittleren Hierarchieebene Menschen sitzen, die tolle Ideen haben, um die Ecke denken und Ideen vorschlagen, aber oben sitzen Leute, die sagen "Das haben wir noch nie so gemacht". Und es bringt auch nichts, wenn ganz oben auf einem einsamen Geschäftsführer- oder Vorstandsposten einer sitzt, der große Visionen hat, aber seine Mannschaft nicht abholen kann und diese dann der Vision nicht folgen kann, weil sie noch nie um die Ecke denken durften. Deswegen glaube ich, dass man Innovationskulturen mindestens an drei Punkten ansetzen muss: Ganz, ganz oben, dann in der ersten Führungsetage und dann auch noch einmal gesammelt für alle, die im Unternehmen sind. Im besten Fall ist es eine Gruppe aus allen Hierarchieebenen, die sich mit Innovation beschäftigt. Also nicht nur Menschen aus der Führungsetage, die sich dann an einen runden Tisch der Innovation setzen, Ideen besprechen und Visionen und Leitbilder kreieren, wie innovativ wir sein sollen, das muss von überall herkommen. Da muss der aus der ersten Führungsetage auch schon mal mit einem Azubi sitzen. Innovation muss von innen heraus kommen und nicht einseitig bleiben. Das ist das Wichtigste. Das ist vor allen Dingen auch gar nicht so leicht für Unternehmen, weil man bisher nicht so gearbeitet hat. Es ist nicht unbedingt üblich, dass jemand mit dreißig Jahren Führungserfahrung auf einmal mit dem Azubi, der tolle Ideen hat, an einem Tisch sitzt und gleichberechtigt über eine Idee diskutiert. Ich glaube aber, dass wir dieses Umdenken ganz, ganz dringend brauchen, weil wir in unserer Arbeit immer wieder feststellen, dass das Potenzial für Innovation und gute Ideen meistens von Menschen kommt, denen man es auf den ersten Blick gar nicht zugetraut hat. Und das beweist einfach, dass man sich so aufstellen muss:. Denen zuhören, die die guten Ideen haben, und nicht nur denen, die am längsten da sind oder die die höchste Führungsposition haben. Ich glaube, dieses Umdenken ist eins der wichtigsten Dinge, wie sich ein Unternehmen aufstellen muss, um innovativ zu sein.
Mit der Innovations-Entwicklung gehen auch Investitionen einher, die viele Unternehmer scheuen, da ja auch nicht jede Innovation ein Markterfolg wird. Was darf oder muss ein Unternehmen investieren und haben Sie einen Tipp, wie man das Risiko begrenzen kann?
Innovation wird immer dann besonders spannend und heiß diskutiert, wenn es an das Geld geht. Das verstehe ich auch, weil die Flop-Rate auch bei Start-ups einfach so hoch ist, dass natürlich alle Angst davor haben, Geld zu verbrennen. Es ist aber auch eben nicht mit 0 Budget getan. Manchmal muss man ein bisschen investieren. Ja, man kann das begrenzen, indem man ein bisschen schaut: Was brauche ich, um grundsätzlich Innovation nach vorne zu bringen und wie viele Projekte habe ich eigentlich gleichzeitig am Laufen. Wie früh merke ich, dass sie keinen Erfolg haben werden? Das heißt, ich halte für richtig in Innovationsprojekten kleinschrittig zu arbeiten und jedem kleinen Schritt ein Budget zuzuweisen. Nach jedem erfolgreichen Schritt oder auch jedem überarbeitungsungsfähigen und vielversprechenden Schritt zu sagen: "Okay, was ist das Budget für den nächsten Schritt?" So hat man die Chance nicht gleich riesige Budgets zu verballern, sondern jedes Mal rechtzeitig zu merken, dass man in eine verkehrte Richtung geht und was ändern muss, bevor das Geld aus dem Fenster geschmissen ist. Dazu kann man aber auch ganz, ganz viel in meinem Buch nachlesen. Deswegen will ich da gar nicht so viel vorwegnehmen. Aber eine ganz wichtige Sache ist, glaube ich, sich überhaupt damit anzufreunden, dass das passieren kann, dass Budgets keinen Erfolg bringen, dass das ein Normalzustand ist und dass man das auch aushalten muss. Dass es vor allen Dingen auch nicht bedeutet, dass das Innovationsteam versagt hat, sondern dass das der normale Lauf ist. Oft passiert es, dass Entscheider, die bestimmte Budgets locker machen sollen, erwarten, dass das Innovationsteam Garantien vergibt, dass das auch klappt. Wenn das Innovationsteam das dann nicht kann, was völlig normal wäre, kriegen sie oft Ideen nicht genehmigt, nicht mal die kleinsten. Das ist so eine Sache, da muss ich gestehen, ärgere ich mich manchmal darüber. Das sind Innovationsverhinderungsfaktoren, die überhaupt keinen Spaß machen, wenn man Innovation nach vorne bringen will. Aber wie gesagt: Ganz konkret, wie man Kosten vernünftig strukturiert, um möglichst wenig Geld zu verbrennen, im Innovationsprozess kann man in "Innovation leben!" nachlesen.
Haben Sie zum Schluss noch einen persönlichen Tipp, wie wir unsere eigenen innovativen Fähigkeiten weiterentwickeln können?
Ich finde weiterentwickeln ist schwierig zu sagen, weil ich die Ansicht vertrete, dass wir eigentlich den Menschen schon ab dem Kindergarten-, Schul- und Universitätsalter innovative Fähigkeiten aberziehen, indem wir ihnen beibringen nach ganz konkreten Frameworks vorzugehen, ganz bestimmte Regeln einzuhalten, sich nur auf eine Sache zu konzentrieren, nicht das große Ganze zu sehen. Uns sollte nicht nur das Ergebnis interessieren, sondern auch, wie man zum Ergebnis gekommen ist. Es gilt immer nur ein einziges Ergebnis und ein Weg als richtig und nicht etwa die 10 Millionen anderen Möglichkeiten, wie man da hingekommen sein könnte. Darum würde ich gerne davon sprechen, dass wir die innovativen Fähigkeiten wiederbeleben müssen. Es kann sich niemand davon freisprechen, als Kind schon in innovative und kreative Probleme gelöst zu haben. Heute haben wir das ein bisschen verlernt. Wir versuchen in unseren Workshops den Menschen einfach ein Stück davon wiederzugeben, den Reset-Knopf zu drücken und zu sagen: Fang nochmal ganz von vorne an. Stell infrage, dass die Regeln so wie du sie kennst, existieren. Überleg mal, wie du darüber gedacht hättest, bevor du gelernt hast, dass du dich an Regeln halten musst. Das kann man üben, indem man einfach mal wirklich darüber nachdenkt: Was wäre wenn alle Regeln nicht existieren würden? Das kann alles sein. Im privaten Bereich z.B. "Was wäre, wenn ich nicht rechts fahren müsste auf der Straße?", oder im beruflichen Bereich: "Was wäre, wenn ich jetzt einfach was ausprobieren würde? Ohne, dass ich jemanden fragen muss, ohne dass ich von jemandem um ein Budget betteln muss. Ohne, dass man drei Abteilungen abholen muss. Was würde ich dann tun? Was erscheint mir möglich?" Das sind so kleine Übungen, wo man mal Rumspinnen darf. Rumspinnen ist eigentlich eine der allerbesten Sachen, die man machen kann, wenn man seine innovativen Fähigkeiten wiederbeleben möchte. Dabei wird man feststellen, dass man darin immer besser wird. Je öfter man das gemacht hat, umso mehr flutscht das dann auch, man kommt dann auf richtig tolle Ideen und auf einmal scheinen Sachen möglich, die man sich vorher überhaupt nicht vorstellen konnte. Ich glaube, das ist ein Tipp, da kann auch jeder gleich sofort mit anfangen. Sich die Frage zu stellen: "Was wäre wenn?"
Danke für das Gespräch